Interview mit Sigrun Falkensteiner und Rosa Maria Niedermair

„Guter Unterricht im inklusiven Kontext“

Mai 2023
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Wie kann Südtirols Schulsystem inklusiver werden? Landesschuldirektorin Sigrun Falkensteiner und Schulinspektorin Rosa Maria Niedermair wurden von der Redaktion zum Projekt der Deutschen Bildungsdirektion „Wege in die Bildung 2030 – guter Unterricht in der inklusiven Schule“ befragt.

Die Deutsche Bildungsdirektion startet das Projekt „Wege in die Bildung 2030 – guter Unterricht in der inklusiven Schule“. Worum geht’s?

Rosa Maria Niedermair (RN): Die Deutsche Bildungsdirektion startet nicht nur ein Projekt, sondern setzt unter dem Titel „Wege in die Bildung 2030 – guter Unterricht in der inklusiven Schule“ einen Schwerpunkt für die Schulen aller Stufen und Typen. Durch Schulentwicklungsprozesse an den einzelnen Schulen soll der inklusive Unterricht verbessert werden. Im Rahmen dieses Schwerpunktes wird ab dem Schuljahr 2023/24 ein dreijähriges Projekt laufen, das Schulentwicklungsprozesse an sechs Pilotschulen vorsieht. Diese Schulen sollen auf besondere Weise begleitet und unterstützt werden. Aber es bleibt zu unterstreichen: Der Schwerpunkt ist richtungsweisend für alle Schulen.

Schulinspektorin Rosa Maria Niedermair

Und wie schaut es inhaltlich aus?

RN: Inhaltlich geht es beim Schwerpunkt bzw. Projekt um die Verbesserung von gutem Unterricht im inklusiven Kontext. Inklusion ist ein Grundpfeiler unseres Bildungssystems; auch die Rahmenrichtlinien für die Südtiroler Schulen, der verbindliche Bezugsrahmen für die Ausarbeitung des Bildungsangebotes durch die autonomen Schulen, geben vor, dass Kinder und Jugendliche als einzigartige Persönlichkeiten und mit ihren Talenten, Interessen, Sprachen, Kulturen und Bedürfnissen wahrgenommen und dort abgeholt und gefördert werden müssen, wo sie sich in ihrem Lernprozess befinden. Nun haben gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen dazu geführt, dass die Schülerschaft heterogener geworden und die Komplexität an den Schulen dementsprechend gestiegen ist. Dies stellt die Schulen vor große Herausforderungen und erfordert angemessene, wirksame Antworten in Bezug auf die Organisation und Gestaltung von Unterricht, dem Kernauftrag der Schulen.

Sigrun Falkensteiner (SF): Ausgangspunkt für den Schwerpunkt bzw. das Projekt waren nicht zuletzt auch die Rückmeldungen der Schulen, dass gewisse Methoden, Organisationsformen, Konzepte nicht mehr greifen, dass Schule überfrachtet wird mit Aufgaben und dass es neue Antworten auf neue Situationen braucht. Aus diesem Grund haben wir uns dazu entschieden, das Wesentliche wieder in den Mittelpunkt zu rücken: Das Lernen und die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler, im Lichte der Inklusion.

Wie sieht guter Unterricht in der inklusiven Schule aus?

SF: Auf diese Frage liefert die Wissenschaft unzählige Antworten. Man denke beispielsweise nur an die Hattie-Studie, die sehr umfassend darlegt, welche Faktoren Lernen und Entwicklung begünstigen und beeinflussen. Es würde den Rahmen sprengen, hier alle Erkenntnisse der Forschung aufzulisten.

RN: Wir haben aber wahrgenommen, dass sowohl innerhalb der Bildungsdirektion als auch an den einzelnen Schulen vielfach keine einheitliche Sprache verwendet wird, wenn von gutem Unterricht die Rede ist und nicht immer ein gemeinsames Verständnis vorliegt. Daher haben wir in den vergangenen Monaten in einem partizipativen Prozess ein Dokument ausgearbeitet, das in kurzer, kompakter Form und auf wissenschaftlicher Grundlage aufzeigt, wie sich guter, inklusiver Unterricht manifestiert, das Grundsatzdokument „Guter Unterricht in der inklusiven Schule“.

SF: Das Grundsatzdokument ist als verbindlicher Orientierungsrahmen gedacht und soll als eine Art „Wegweiser“ für die Planung und Gestaltung des Unterrichts dienen. Es fasst die wesentlichen Elemente zusammen und zeigt in vier Dimensionen einen greifbaren Bezugsrahmen und wichtige Ankerpunkte auf. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Guter Unterricht in der inklusiven Schule ist am Kind und an den Jugendlichen orientiert, auf den Erwerb von Kompetenzen ausgerichtet, in verschiedenen Formaten der Zusammenarbeit organisiert und in einen verbindlichen Rahmen eingebettet.

Wer muss für eine funktionierende inklusive Schule zusammenarbeiten?

SF: Die Beteiligung und das gemeinsame Lernen aller ist gefragt. Es bedarf aber auch einer Klarheit bei den Rollen, Funktionen und Organisationsstrukturen. Das erleichtert die Orientierung und gibt Halt.

RN: Inklusion in der Schule zeigt sich nicht nur in der Organisation und Gestaltung des Unterrichts, sondern vor allem auch im schulischen Alltag; in der gelebten Praxis. Dementsprechend ist es unabdingbar, dass alle Beteiligten an der Schule eng zusammenarbeiten und zusammenwirken: die Lehrpersonen, die Mitarbeitenden für Integration, die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, die Erziehungsverantwortlichen, das nicht unterrichtende Personal der Schule, die außerschulischen Partnerinnen und Partner und natürlich die Schulführungskraft. Nur so kann an einer Schule eine Kultur der Inklusion entstehen.

Landesschuldirektorin Sigrun Falkensteiner

Welche Rahmenbedingungen müssen für die inklusive Schule geschaffen werden?

SF: Die Frage sollte eher lauten: Welche Haltung müssen Menschen in einer inklusiven Schule mitbringen? Und allein diese Frage ist Antwort genug.

Hat Südtirol genügend Ressourcen für ein inklusives Schulsystem?

SF: Solange sich ein inklusives System nur durch die Größe der Ressourcen kennzeichnet und hält, werden die Ressourcen nie ausreichen und echte Inklusion wird nicht stattfinden. Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich können Ressourcen dazu beitragen, Organisationsmodelle zu unterstützen oder Expertise hereinzuholen. Liegt der inklusiven Schule allerdings keine inklusive Haltung der Beteiligten zu Grunde, laufen alle Bemühungen ins Nichts.

Im Zentrum des guten Unterrichts einer inklusiven Schule steht die Einzigartigkeit des Schülers bzw. der Schülerin. Inwiefern kann sich eine Lehrperson im Unterricht um alle Schülerinnen und Schüler und deren Bedürfnisse im Einzelnen kümmern?

RN: Jede Lehrperson ist zur Individualisierung und Personalisierung der Lernprozesse verpflichtet. Unterschiedlichen Lernwegen, Lernrhythmen, Lernstrategien und Lerntechniken der Schülerinnen und Schüler kann durch Methodenvielfalt und anregende Lernumgebungen begegnet werden. Durch inhaltliche Differenzierungen kann den Neigungen, Fähigkeiten, Interessen und Kenntnissen der Lernenden entsprochen werden. Es geht insgesamt darum, den Unterricht so zu gestalten, dass jedes Kind und jede/r Jugendliche die Möglichkeit hat, seinen/ihren individuellen Lernweg zu beschreiten, sich als Lehrperson zurückzunehmen und den Lernenden beim selbstorganisierten Lernen beratend und unterstützend zur Seite zu stehen.

Leitungsteam der Deutschen Bildungsdirektion für eine inklusive Schule in Südtirol: Peter Prieth, Gertrud Verdorfer, Gustav Tschenett, Rosa Maria Niedermair, Sigrun Falkensteiner (von links)

SF: Zugegebenermaßen wird die Frage nach der Einzigartigkeit manchmal auch missverstanden, denn es geht nicht darum, dass Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler wie ein Tagebuch lesen. Und es geht auch nicht darum, die unterschiedlichen Werte- und Erziehungsvorstellungen der Eltern bei jedem Kind individuell zu berücksichtigen. Eine Lehrperson muss jedoch echtes Interesse an den Schülerinnen und Schülern haben und versuchen zu verstehen, was uns Kinder und Jugendliche durch ihr Verhalten zeigen, durch ihre Fragen, durch ihre Art, an Dinge heranzugehen und Problemstellungen zu lösen. Darauf baut dann guter Unterricht auf.

Handelt es sich bei der inklusiven Schule um eine utopische Theorie oder realitätsnahe Praxis?

RN: Ausgehend von einem humanistischen Menschenbild ist Inklusion Ziel und konstante Aufgabe für die gesamte Gesellschaft und mithin auch für die Schule. Die Verwirklichung von Inklusion bleibt immer Ziel und ist von dem her niemals abgeschlossen; sie muss als fortwährender Prozess verstanden und gelebt werden. In diesem Sinne ist die inklusive Schule realistische Praxis.

SF: Die Antwort liegt wohl irgendwo in der Mitte. Wichtig ist, sich auf den Weg zu machen.

Was erhoffen Sie sich durch das Projekt „Wege in die Bildung 2030 – guter Unterricht in der inklusiven Schule“?

SF: Ich erwarte mir Reflexion, Motivation, pädagogische Frische und die Bestätigung, dass wir gemeinsam auf einem guten Weg sind.

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