Interview mit Landeskindergartendirektorin Helena Saltuari

„Jedes Kind so anzunehmen, wie es ist, ist unser erster Auftrag!“

Dienstag, 30.1.2024
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Landeskindergartendirektorin Helena Saltuari gewährt Einblicke in die kreative Bildungswelt der deutschsprachigen Südtiroler Kindergärten. Von Inklusion bis zu sprachsensibler Begleitung– wie gestaltet sich die Zukunft der frühkindlichen Bildung im Kindergarten?

INFO: Wie sieht die gegenwärtige Lage der Kindergärten in Südtirol aus und welche Entwicklungen oder Veränderungen haben sich in den letzten Jahren ergeben? 

Helena Saltuari: Der deutschsprachige Kindergarten im Land ist in einer guten Verfassung: kreativ, innovativ und reflexionsbereit. Unsere Einrichtungen verfügen über eine funktionale Ausstattung und die Gemeinden sowie die Träger vor Ort arbeiten kontinuierlich mit den Direktionen der Kindergartensprengel und den pädagogischen Fachkräften zusammen, um eine zeitgemäße Anpassung, Einrichtung und Ausstattung der Kindergärten sicherzustellen. So kann frühkindliche Bildung unter möglichst optimalen Voraussetzungen gelingen.
Die Pandemie hat uns vorübergehend herausgefordert und sowohl Familien als auch Pädagoginnen und Pädagogen vor Ort mit Einschränkungen konfrontiert. Wir sind erleichtert, diese Zeit nun hinter uns zu lassen und unseren Blick wieder vollständig auf pädagogische Entwicklungen und Vorhaben richten zu können.
Früher war der Kindergarten die erste Institution, die das „Hineinwachsen in die Gesellschaft“ außerhalb des familiären Umfelds begleitete. Heutzutage besuchen jedoch viele Kinder bereits vor dem dritten Lebensjahr Einrichtungen der frühen Kindheit oder andere Bezugspersonen außerhalb der Familie, da die Eltern berufstätig sind. Der Kindergarten wirkt als erste Bildungseinrichtung vor der Schule und ergänzt die familiäre Erziehung, ersetzt sie jedoch nicht, auch wenn diese Erwartung manchmal an uns herangetragen wird. Daher investieren wir auch erheblich in die Beratung und Stärkung der Familien in ihrer Erziehungsverantwortung.

Wie wird die Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in den Kindergärten in Südtirol gefördert und unterstützt? Wie definieren Sie Inklusion im Kindergarten? 

Welches Kind hat keine besonderen Bedürfnisse? Der deutschsprachige Kindergarten in Südtirol hat sich seit seinen Anfängen dem Auftrag verschrieben, jedes Kind (und seine Familie) so zu akzeptieren und aufzunehmen, wie es (sie) ist. Jedes Kind hat individuelle und damit besondere Bedürfnisse, seine eigene Entwicklungs- und Bildungsbiografie, die es sensibel, achtsam und aufmerksam wahrzunehmen gilt. Die Pädagogischen Fachkräfte unterstützen das Kind im Aufbau eines positiven Selbstkonzeptes, in der Entwicklung seiner Identität, seiner Potenziale und Kompetenzen und begleiten es co-konstruktiv auf seinem Weg in die Gemeinschaft mit anderen. Das macht den Beruf der Pädagogischen Fachkraft aus.
Integration, viel mehr die Inklusion von Kindern mit Beeinträchtigung, ist für den Kindergarten ein selbstverständlicher Auftrag: So einzigartig, wie jedes Kind ist, so unterschiedlich sind auch die Maßnahmen und Akzente, die seine jeweilige Bildungsbegleitung erfordert. Inklusion hat die größtmögliche Teilhabe an der Gemeinschaft zum Ziel, erfordert eine geschlechts- und vorurteilssensible Haltung und berechtigt zur Unterschiedlichkeit, eine Haltung, ohne die die Gesellschaft nicht mehr funktionieren kann.
Die Zusammenarbeit mit den Familien, aber auch mit anderen Netzwerkorganisationen und Bildungspartnern macht diesen Auftrag immer wieder aufs Neue spannend und bunt.

Keine Investition zahlt sich mehr aus als jene in die frühe Kindheit, denn sie bildet das Fundament unserer Gesellschaft von morgen.


Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um die Qualität der frühkindlichen Bildung in der Region weiterzuentwickeln?       

Die Rahmenrichtlinien haben für den Kindergarten als erste Bildungseinrichtung einen enormen Qualitätssprung mit sich gebracht. Es wurde viel in die Implementierung von bildungswissenschaftlichen, entwicklungspsychologischen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen in bestehende pädagogische Konzepte investiert. Die kindgerechte Gestaltung der Spiel-, Lern- und Arbeitsräume sowie die Fort- und Weiterbildung der Pädagogischen Fachkräfte, die Zusammenarbeit mit den Familien und die Gestaltung der Übergänge erfahren in unseren Kindergärten ständiges Augenmerk. Auch der Qualitätsrahmen, der zu den Rahmenrichtlinien ausgearbeitet wurde, ist präsent und lädt die Pädagoginnen und Pädagogen zur kontinuierlichen Reflexion der frühkindlichen Praxis vor Ort ein. Aktuelle Erkenntnisse aus der Frühpädagogik bestätigen uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.


Welche Herausforderungen stehen aktuell im Bereich der frühkindlichen Bildung in Südtirol im Vordergrund und wie werden sie angegangen? 


Wie viele andere Bereiche ringen auch wir um qualifizierte, gut ausgebildete Fachkräfte. Zudem erfordern gesellschaftliche Entwicklungen in der frühkindlichen Bildung immer wieder Anpassungen und Neuausrichtungen. Es liegt in der Verantwortung der Politik, die Ressourcen und Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass  frühe Kindheit die gebührende Beachtung und den entsprechenden Respekt erfährt. Keine Investition zahlt sich mehr aus als jene in die frühe Kindheit, denn sie bildet das Fundament unserer Gesellschaft von morgen.
Der Kindergarten leistet sein Bestes, manchmal sogar mehr, als er kann. Wenn wir noch stärker in Prävention, Familien und den Umgang mit Heterogenität – kurz gesagt: in die Zukunft – investieren möchten (und das ist unser Wunsch und Auftrag zugleich), dann benötigen wir Rahmenbedingungen, die dieses Berufsfeld attraktiver machen, und diese gibt es nicht zum Nulltarif.

Gibt es spezielle Initiativen oder Programme, die darauf abzielen, die Mehrsprachigkeit in den Kindergärten zu fördern, insbesondere vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt in Südtirol?    

Ich möchte davor warnen, dem weit verbreiteten Irrglauben zu verfallen, dass spezielle Programme, möglichst früh angewandt, also während der lernintensivsten Zeit der ersten 6 Lebensjahre, mehrsprachige (und nicht nur) Kinder als  Ergebnis hervorbringen. . Wenn wir bildungsrelevante Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Frühpädagogik berücksichtigen wollen, müssen wir den einseitigen Wissenserwerb zugunsten von Entwicklung und Lernen als einen ganzheitlichen, co-konstruktiven Prozess relativieren.
Die Entwicklung von Sprache und Sprechen stellt einen komplexen, interaktiven und ganzheitlichen Prozess dar, der weit mehr als die gesprochene Sprache umfasst. Bedenken wir, dass im Kindergarten Kinder sind, die oft noch keine verbale Sprache entwickelt haben und sich zunächst über Gestik, Mimik, Laute oder Bewegungen ausdrücken. Es ist eine beachtliche Leistung, wenn diese Kinder bis zum Eintritt in die Schule eine weitere Sprache neben ihrer eigenen Familiensprache verstehen und sich darin vielleicht sogar verständigen können.
Der Kindergarten hat den Auftrag, jedes Kind mit seinen Ausdrucksmöglichkeiten und Familiensprachen wertzuschätzen, es zur deutschen Hochsprache hin zu führen und für weitere Sprachen zu sensibilisieren. Dabei werden die Kinder ermutigt, Neugier für Sprachen zu entwickeln und Mehrsprachigkeit im Kindergartenalltag als Bereicherung zu erleben.

Wie wird die kontinuierliche Weiterbildung und Unterstützung der Pädagogischen Fachkräfte in Südtirol sichergestellt? 

Die Fortbildungskultur im Kindergarten hat eine lange Tradition. Die Landeskindergartendirektion kümmert sich gemeinsam mit der Pädagogischen Abteilung um Veranstaltungen auf Landesebene sowie um individuelle oder sprengelübergreifende Unterstützungsangebote. Die Kindergartensprengel bieten den Pädagogischen Fachkräften jährlich ein Fortbildungsprogramm an, das auf mehrjährige Entwicklungen aufbaut, auf einzelne Teams oder Kindergärten zugeschnitten ist und dabei aktuelle Themen oder Bedarfe des Kindergartens berücksichtigt.

Es sind die Jüngsten in unserer Gesellschaft, denen als ihre verletzlichsten Mitglieder unsere größte Aufmerksamkeit gebührt.

Welche langfristigen Ziele und Visionen haben Sie für die Entwicklung der frühkindlichen Bildung in Südtirol? 

Von der Bildung wird es abhängen, ob die heranwachsenden Generationen den Ansprüchen und Herausforderungen der Zeit gewachsen sein werden – und zwar nicht nur jenen, die die Wirtschaft beantwortet wissen möchte, sondern auch jenen, die langfristig zu einem friedlichen, nachhaltigen und solidarischen Miteinander befähigen.
Ich bin stolz darauf, dass der Kindergarten mit seinen Pädagogischen Fachkräften in aller Bescheidenheit in den letzten 15 Jahren eine zeitgemäße, innovative Pädagogik implementieren konnte. Diese ist qualitativ hochwertig und stellt sicher, jedes Kind mit seiner Familie im Sinne eines positiven Selbstkonzeptes individuell wertzuschätzen und zu begleiten. Das sind gute Voraussetzungen für die anschließenden Bildungswege und -erfolge des Kindes. Leider werden diese Voraussetzungen von Schule und Gesellschaft oft noch zu wenig wahrgenommen und geschätzt.
Der Kindergarten, so wie wir ihn bis heute weiterentwickelt haben, war und ist kein Selbstläufer. Er ist das Ergebnis vieler unermüdlicher Anstrengungen motivierter ExpertInnen aus der Frühpädagogik, die um sein enormes Potenzial wissen. Ich wünsche mir, dass wir zusammen mit Politik und Gesellschaft imstande sind, dieser Bildungsstufe zunehmenden Respekt zu zollen, um ihr Potenzial im Sinne der Kinder weiter ausschöpfen zu können. Eines sollten wir nämlich nicht vergessen: Es sind die Jüngsten in unserer Gesellschaft, denen als ihre verletzlichsten Mitglieder unsere größte Aufmerksamkeit gebührt.

Redaktion INFO