Interview Psychopädagogik

„Wo Scham, Schuld und Angst vorhanden sind, gestaltet sich das Lernen schwierig!“

Montag, 5.2.2024
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Von Prävention bis zur Krisenbewältigung: Psychopädagogin Verena Bertignoll spricht mit INFO über psychopädagogische Ansätze in der Bildungsberatung sowie Lehren und Lernen im Kontext der Psychopädagogik.         

INFO: Frau Bertignoll, was genau ist die Beratungstätigkeit im Referat Psychopädagogik? 
Verena Bertignoll: Die psychopädagogische Beratung existiert unter dieser Bezeichnung seit der Einführung der Referate an der Pädagogischen Abteilung. Das Beratungsangebot selbst besteht schon seit geraumer Zeit und wurde zuvor als Integrations- und Schulberatung bezeichnet. Derzeit sind 14 Beraterinnen und Berater in den Pädagogischen Beratungszentren in Schlanders, Meran, Bozen, Brixen und Bruneck tätig. Wir sind geografisch auf die Bezirke verteilt, um eine persönliche Beratung vor Ort zu ermöglichen. Unser Fokus liegt darauf, Lehrpersonen, Fachkräfte im Kindergarten sowie Eltern und Schülerinnen und Schülern in verschiedenen Angelegenheiten zu begleiten. Als Psychologinnen und Pädagoginnen betrachten wir insbesondere die Entwicklungsaspekte im Kontext von Kindergarten und Schule, um die Arbeit der Fachkräfte und Lehrpersonen bestmöglich zu unterstützen.

Könnten Sie uns mehr über die Arbeitsschwerpunkte der psychopädagogischen Beratung  erzählen? 
Wir unterstützen Kindergärten und Schulen bei Fragen zu Auffälligkeiten in der Entwicklung, im Lernen und im Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Das umfasst Situationen, in denen Kinder Ängste oder Aggressionen zeigen, Schwierigkeiten in der Aufmerksamkeitslenkung, im Arbeitsverhalten oder im Lesen, Schreiben oder Rechnen haben. Des Weiteren bieten wir Beratung zu Übergängen an, sei es zu Fragen der Schulfähigkeit oder zu Übertritten. Darüber hinaus informieren und beraten wir zu integrations- und inklusionsspezifischen Themen und unterstützen bei der Ausarbeitung von Maßnahmen sowie möglichen Vorgehensweisen für eine angemessene Begleitung. Dies betrifft insbesondere Kinder, bei denen beispielsweise ADHS, Autismus oder eine andere Beeinträchtigung diagnostiziert wurde.
Dabei nehmen wir sowohl die individuelle Person als auch das Umfeld in den Blick und streben gemeinsam mit den Beteiligten tragfähige und lösungsorientierte Wege an, damit Entwicklung und Lernen erfolgreich verlaufen können. Manchmal werden wir auch bei schwierigen Gruppendynamiken oder Konflikten zur Unterstützung und Beratung hinzugezogen.

Herausfordernd wird es überall dort, wo Beziehungen nicht gelingen und ich erlebe bei vielen Kindern und Jugendlichen Schwierigkeiten in Konzentration, Motivation sowie verschiedene Stressreaktionen.

Welche Herausforderungen begegnen Ihnen häufig in Ihrer Arbeit? 
Die Themen, denen ich häufig an Schulen begegne, sind derzeit insbesondere Ängste mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Diese Ängste behindern das Lernen und führen manchmal sogar dazu, dass Schülerinnen oder Schüler es nicht mehr schaffen, zur Schule zu gehen. In den Kindergärten stehen besonders Entwicklungsauffälligkeiten und Fragen zur Schulfähigkeit im Vordergrund, weshalb wir um Rat gefragt werden. Herausfordernd wird es überall dort, wo Beziehungen nicht gelingen und ich erlebe bei vielen Kindern und Jugendlichen Schwierigkeiten in Konzentration, Motivation sowie verschiedene Stressreaktionen.

Wie gehen Sie mit Schülerinnen und Schülern um, die Auffälligkeiten im Lernverhalten zeigen, wie mangelnde Motivation oder unzureichendes Arbeitsverhalten?
Lernen geschieht immer in Beziehung und in Abhängigkeit von Situation und Kontext. Wenn Menschen etwas tun, ist dies stets emotional geprägt. Wir können nicht anders, als uns an diesen Gefühlen zu orientieren. Emotionen organisieren unser Erleben und Handeln und beeinflussen maßgeblich unsere Merkfähigkeit und Erinnerungen. Erfolgreiches Lernen findet statt, wenn wir uns gut aufgehoben fühlen, in die Lerngemeinschaft eingebunden sind und gleichzeitig unsere Handlungen als wirksam und bedeutsam erleben können, indem wir für uns wichtige Erfolge erzielen.
Wo Scham, Schuld und Angst vorhanden sind, gestaltet sich das Lernen schwierig. Im Umgang mit Auffälligkeiten im Lernverhalten ist es daher immer wichtig, die Hintergründe zu verstehen: Ist die Schülerin/der Schüler in die Klassengemeinschaft integriert? Gelingen die Beziehungen zu den Lehrpersonen und Mitschülerinnen und -schülern? Kann sie oder er an eigene Kompetenzen anknüpfen und Lernziele erreichen, oder besteht Überforderung? Ist das, was getan wird, für den Lernenden von Bedeutung? Erst wenn wir eine Vorstellung davon haben, wo die Schwierigkeiten liegen, können wir hilfreiche Lösungsmöglichkeiten in Erwägung ziehen. Diese sind immer von den beteiligten Personen und der konkreten Situation abhängig.

Wie unterstützen Sie Schülerinnen und Schüler mit sozialen oder emotionalen Problemen, wie Aggressionen, Ängsten, ADHS oder psychosomatischen Beschwerden? 
Die Herangehensweise ist ähnlich: Wir führen Gespräche mit den Beteiligten und versuchen gemeinsam herauszufinden, wo sowohl das Problem als auch das Ziel liegen. Oft beobachten wir Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Spiel- oder Lernsituationen, um eine externe Perspektive einzubringen. Im anschließenden Dialog mit den Beteiligten suchen wir nach hilfreichen Möglichkeiten und Vorgehensweisen und begleiten diese, wenn notwendig und gewünscht, auch bei ihrer Umsetzung. Eine grundlegende Zusammenarbeit besteht häufig mit den internen Unterstützungssystemen der Schule bzw. des Kindergartens, wie Sozialpädagoginnen, Beratungslehrpersonen und ZIBs (Zentren für Inklusion und Bildung). Darüber hinaus streben wir kontinuierlich nach Vernetzung und Kooperation mit den relevanten Fachdiensten und Institutionen.

Wenn es gelingt, unterschiedliche Perspektiven zuzulassen, sich mitzuteilen und darüber auszutauschen, was das gemeinsame Ziel ist, eröffnen sich oft neue Wege.

Wie gestalten Sie die Zusammenarbeit mit Erziehungsverantwortlichen und der Schule, insbesondere in Konfliktsituationen? 
In Konfliktsituationen geht oft die gemeinsame Gesprächsbasis verloren. Jede Seite geht von ihrer eigenen Wirklichkeit und Wahrheit aus und vergisst dabei, dass andere möglicherweise unterschiedliche Wahrnehmungen oder Verständnisse haben. Eltern sind stets Experten für ihre Kinder, Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte für Bildungsprozesse. Es ist entscheidend, einen sicheren und unvoreingenommenen Gesprächsrahmen zu schaffen, in dem es möglich ist, wieder zuzuhören.
Wenn es gelingt, unterschiedliche Perspektiven zuzulassen, sich mitzuteilen und darüber auszutauschen, was das gemeinsame Ziel ist, eröffnen sich oft neue Wege. Als Beratende spielen wir hier oft eine bedeutende Rolle, denn wir sind zwar Teil des Systems und haben daher unkomplizierten Zugang, kommen jedoch gleichzeitig von außen und garantieren damit Neutralität und Allparteilichkeit.

Wie gehen Sie mit schulischen Krisen um, wie beispielsweise Schulabsentismus, Verweigerung oder Schulwechsel? 
Krisen sind immer schwierig, da sie mit unangenehmen Gefühlen wie Ohnmacht, Hilflosigkeit oder Scham einhergehen. Zudem vergessen wir häufig, dass wir letztlich das Verhalten anderer niemals wirklich steuern können. Das bedeutet, dass herkömmliche Strategien oft schnell an ihre Grenzen stoßen. Es kann hilfreich sein, zunächst einen Schritt zurückzutreten und sich die Frage zu stellen: Was verstehen wir von dem, was hier passiert?
Menschliches Verhalten hat immer einen sinnvollen Hintergrund. Wenn Kinder beispielsweise nicht mehr zur Schule kommen, könnten Veränderungen in der Familie dahinterstecken, die den Kindern den nötigen Halt entziehen. Oder Jugendliche erleben Probleme, die ihre eigenen Bewältigungsmöglichkeiten übersteigen und der Rückzug erscheint kurzfristig als beste Lösung. Daher können wir versuchen zu verstehen, um eine Vorstellung davon zu entwickeln, was hilfreich sein könnte, damit der Schulbesuch und das Lernen wieder gelingen.

Wie bewältigen Sie schwierige Dynamiken in Gruppen, wie Ausgrenzung, Konflikte und Mobbing? 
Mobbing ist und bleibt ein Thema überall dort, wo Menschen zusammenleben, arbeiten und lernen. Es handelt sich um ein systemisches Problem, das also mit allen und allem in Verbindung steht und daher oft nicht durch einfache Lösungen bewältigt werden kann. Wenn schwere Verletzungen bereits eingetreten sind, gestaltet es sich zudem schwierig, diese wiedergutzumachen und aus verfestigten Dynamiken auszubrechen. Daher ist es umso wichtiger, auf Prävention zu setzen.
Im Rahmen der Gesundheitsförderung gibt es wunderbare Programme zum sozialen Lernen, die bereits von vielen Fachkräften und Lehrpersonen umgesetzt und gelebt werden. Zudem stellt die Schulsozialpädagogik eine wichtige Ressource dar. Als psychopädagogische Berater und Beraterinnen können wir unterstützen, indem wir Dynamiken benennen und gemeinsam mit den Beteiligten Strategien erarbeiten.

Unser Ziel ist es, die Menschen in ihren Kompetenzen zu stärken, im Wissen, dass sie selbst die besten Lösungen für sich finden können.

Welche persönlichen Überzeugungen oder Werte beeinflussen Ihre Arbeit als psychopädagogische Beratende? 
Wir gehen von einem gemeinsamen Beratungskonzept aus, das auf einer wertschätzenden, personen- und systemorientierten Haltung basiert. Das bedeutet, dass wir unvoreingenommen auf Menschen und Situationen zugehen und uns bemühen, die Sichtweisen der involvierten Personen im konkreten Kontext wahrzunehmen und zu verstehen . Unser Ziel ist es, die Menschen in ihren Kompetenzen zu stärken, im Wissen, dass sie selbst die besten Lösungen für sich finden können. Wir stellen mit Freude fest, wie viel Engagement und Kompetenz Lehrpersonen und Fachkräfte einbringen. Oft hilft bereits der externe Blick, um  wieder einen gangbaren Weg zu finden .

Welche Veränderungen oder Entwicklungen würden Sie sich für das Schulsystem wünschen, um die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern besser zu unterstützen? 
Die Schule von heute ist ein Ausdruck unserer Zeit und die Kinder und Jugendlichen halten uns hier auch einen kritischen Spiegel vor. Wir alle dürften mehr zuhören, mehr Eigenverantwortung übernehmen, mutiger sein und Spielräume nutzen. Es wäre wünschenswert, wenn ein größeres Bewusstsein für die kindliche Entwicklung in unseren Köpfen Platz finden könnte, denn oft erwarten wir von den Kindern und Jugendlichen, dass sie sich wie kleine Erwachsene verhalten. Dabei vergessen wir, dass es ihre Aufgabe ist, Fehler zu machen, Erfahrungen zu sammeln und uns manchmal vor den Kopf zu stoßen.

Redaktion INFO