Wenn Stille sichtbar wird …

Alles begann im Museum Rudolf Stolz in Sexten. Dort initiierte Hermann Rogger – Museumsleiter und Koordinator der Begabungs- und Begabtenförderung im Schulverbund Pustertal – die Ausstellung „Stille“. Ausgangspunkt war die Idee, das Unsichtbare sichtbar zu machen: die Stille als künstlerisches Thema, als menschliche Erfahrung, als Raum für Verletzlichkeit. Der Impuls kam aus einer langjährigen Freundschaft mit dem Wiener Großbäcker Gerhard Ströck. Zwei seiner drei Söhne leiden seit zehn bzw. acht Jahren an ME/CFS, einer neuroimmunologischen Erkrankung, die das Leben der Betroffenen buchstäblich stillstehen lässt. Die Idee: Kunstwerke auswählen, die verschiedene Facetten von Stille sichtbar machen und Jugendliche einladen, darauf mit eigenen Texten zu reagieren.
Über 30 Schülerinnen und Schüler der Grund- und Mittelschulen der Schulsprengel Ahrntal, Bruneck, Olang, Sand in Taufers und Welsberg sowie der Mittelschule Ursulinen verfassten im Rahmen der Begabungsförderung mehr als 200 Texte. Präsentiert wurden sie zunächst in Sexten – und fanden dann ihren Weg im November nach Wien: In einer eindrucksvollen Heiligen Messe im Stephansdom mit dem Dompfarrer Toni Faber trugen vier Südtiroler Schülerinnen, Franziska Innerhofer und Sara Dalsass von der Mittelschule Olang sowie Mia Brugger und Sarah Kofler von der Mittelschule Ursulinen, ausgewählte Texte vor, begleitet vom weltberühmten Cellisten Prof. Julius Berger und seiner Frau Hyun-Jung. Tags darauf folgte ein weiterer Auftritt im Rahmen der ART&ANTIQUE in der Hofburg, wo die bekannte Schauspielerin und Moderatorin Chris Lohner eine beeindruckende Lesung hielt.

Ein Gespräch mit Hermann Rogger über Kunst, junge Menschen und die Kraft, Unsichtbares sichtbar zu machen.
INFO: Herr Rogger, wie ist dieses große Projekt überhaupt entstanden?
Hermann Rogger: Die Wurzeln liegen im Museum Rudolf Stolz in Sexten. Wir führen dort seit bald 15 Jahren Schreibworkshops mit Kindern durch, die zu Kunstwerken Texte verfassen. Der Wiener Unternehmer und Kunstsammler Gerhard Ströck, der uns immer wieder Bilder für unsere Ausstellungen als Leihgaben zur Verfügung stellt, erzählte mir, dass zwei seiner Söhne an ME/CFS erkrankt sind. So entstand die Idee, eine Ausstellung zum Thema „Stille“ zu machen. Stille, weil für Betroffene das Leben buchstäblich stillsteht: Sie sind kraftlos, vertragen kein Licht, keine Geräusche, manche können sogar das Bett nicht verlassen. Wir wollten diese Unsichtbarkeit sichtbar machen.
Wie wurden die Kinder und Jugendlichen in Südtirol einbezogen?
Bei dem Schreibprojekt im Rahmen der Begabungsförderung haben 32 Schülerinnen und Schüler aus mehreren Schulen des Pustertales teilgenommen. Die Schreibpädagoginnen Christine Mutschlechner und Reginalda Tschurtschenthaler zeigten ihnen im Frühjahr 2025 – digital, da die Ausstellung erst im Juni eröffnet wurde – die Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die Teil der Ausstellung „Stille“ waren. Sie setzten sich mit den Biografien der Künstlerinnen und Künstler und ihren Werken auseinander sowie erklärten ihnen das Ausstellungskonzept und die Hintergründe, auch die Krankheit ME/CFS und deren Folgen. Danach brachten die Jugendlichen ihre Gedanken zu Papier. In den drei Vormittagen entstanden über 200 Texte, viele davon sind sehr tiefsinnig und reflektiert und zeigen ein feines Gespür für das anspruchsvolle Thema.

Die Ausstellung war in Sexten ein großer Erfolg. Wie kam es zum Schritt nach Wien?
Wir waren schon in den beiden Jahren zuvor durch die Galerie Maier aus Innsbruck mit unseren Projekten zur Kunstmesse ART&ANTIQUE in der Hofburg in Wien eingeladen, 2023 mit dem Buch „Das blaue Blatt“, einem Kunstwerk von Manfred Bockelmann, dem Bruder von Udo Jürgens, bei dem über 100 Kinder aus elf Ländern mitgeschrieben haben. Zur Präsentation unseres Kunst-Kochbuches „Kinder, Kunst und Kulinarik“ 2024 ist der international bekannte Sänger Max Raabe eigens aus Berlin angereist. Schülerinnen und Schüler der Hotelfachschule Bruneck unter der Leitung von Christof Hellweger haben für die 200 Besucherinnen und Besucher ein köstliches vegetarisch-veganes Buffet vorbereitet. Als wir nun das Schreibprojekt zur Ausstellung „Stille“ machten, freuten sich die Veranstalter, dass wir auch dieses Projekt im Rittersaal der Hofburg vorstellen würden. Außerdem entstand die Idee, zusätzlich einen Gottesdienst im Stephansdom zu gestalten. Der Dompfarrer Toni Faber war sofort offen dafür. Die WE&ME Foundation unterstützte diese Form der Sichtbarmachung, indem beide Veranstaltungen über Livestream übertragen wurden, sodass auch viele an ME/CFS-Erkrankte die Messe von zuhause aus miterleben konnten.
Wie haben die Jugendlichen die Auftritte in Wien erlebt?
Für die vier jungen Damen waren es unvergessliche Momente. Im Stephansdom vor 500 Menschen eigene Texte vorzutragen – das bleibt. Auch in der kaiserlichen Hofburg war die Atmosphäre besonders: Chris Lohner hat gelesen, Julius und Hyun-Jung Berger haben musiziert, und die Texte der Jugendlichen und sie selbst standen im Mittelpunkt. Für ihre professionellen Auftritte ernteten die Schülerinnen viel Lob. Genau das ist das Ziel: Kinder ernst nehmen, ihre Texte wertschätzen, ihnen einen echten Rahmen geben, das stärkt das Selbstbewusstsein.

Warum war es Ihnen wichtig, das Thema Stille mit jungen Menschen zu bearbeiten?
Kinder haben oft einen sehr direkten Zugang zu Kunst. Wenn sie schreiben, fällt ihnen kein Ballast von Erwartungen oder Konventionen auf die Füße. Sie formulieren sehr klar, sehr tiefsinnig, manchmal erschütternd, manchmal hoffnungsvoll. Außerdem wird ihnen bewusst: Auch Stille gehört zum Leben. Und es gibt Menschen, deren Welt unfreiwillig still geworden ist.
Ein ähnliches Projekt fand in Rom statt. Worum ging es dort?
In Rom eröffneten wir am 29. Oktober im Deutschen Pilgerzentrum direkt neben dem Vatikan als Beitrag zum Heiligen Jahr 2025 die Ausstellung „Eine Pilger-Reise durch die Nacht“, die in Zusammenarbeit mit dem Verein Art & Prison aus Berlin und dem Österreichischen Kulturforum in Rom durchgeführt wurde. 13 Jugendliche im Alter von 13 bis 15 Jahren aus dem Pustertal haben im Rahmen eines Schreibprojektes unter der Leitung von Christine Mutschlechner und Reginalda Tschurtschenthaler Texte geschrieben zu Bildern, die Menschen gemalt haben, die in Haft sind oder waren. Auch hierbei ging es um existenzielle Fragen und Erfahrungen: Isolation, Hoffnung, Identität. Das Thema Stille findet auf eine andere Weise wieder Platz. Für mich zeigt es: Kinder können zu schwierigen Themen sehr viel beitragen, wenn man ihnen Raum gibt, wenn man an sie glaubt, wenn man ihren Einsatz wertschätzt, sie in ihrem Tun bestärkt und ihnen etwas zutraut. Auf diese Weise entstehen starke Botschaften von jungen Menschen, die die Erwachsenen sehr beeindrucken. Deshalb sind unsere Begabungsprojekte für die Entwicklung der Schülerinnen- und Schülerpersönlichkeit sehr wichtig.

Hier folgend finden Sie einige der Texte der Schülerinnen und Schüler, die im Rahmen eines Begabungsprojektes zur Ausstellung „Stille“ entstanden sind. Sie zeigen eindrücklich, wie junge Menschen Kunst und Stille wahrnehmen – wenn man ihnen zutraut, über das Unsichtbare zu sprechen.




